Verfallene Gebäude als Kunst-Kurator Grenzen zwischen Natur und Urbanität

Installation „Traces of Existence“ von Pim Palsgraaf. (© Pim Palsgraaf)

Pim Palsgraaf erkundet die Grenzen zwischen Natur und Urbanität und tauscht dafür das Atelier mit Bauruinen.

Autor: Jörg Heikhaus aka Alex Diamond

Pim Palsgraaf, geboren 1979, ist ein Künstler, der sich von Verfall und den Widersprüchen in der Stadt inspirieren lässt: Die Diskrepanz zwischen Natur und Urbanität sind die großen Themen in seiner künstlerischen Arbeit. Verwahrloste Leerstände, Fabrikruinen, die kurz vor dem Einsturz stehen und in denen die Natur eingreift, um sie wieder zu übernehmen, nähren seine Faszination für diesen Prozess.

In seinen dreidimensionalen Werken konzentriert sich Palsgraaf visuell auf die Perspektivenlinien, aus denen wir die Welt um uns herum aufbauen, und erschafft so einzigartige Blickwinkel. Das Material für seine skulpturalen Arbeiten, die entweder freistehend oder an Decken und Wänden installiert werden, findet er in Abrissbauten, verwitterten Gebäuden oder auf dem Schrottplatz. Eine Zeitlang arbeitete Palsgraaf auch mit ausgestopften Tieren und schuf durch die Verbindung von Natur und Gebäuden auf eine fast schon poetische Weise Mischwesen, die er “Multiscape“-Skulpturen nennt und die die Auswüchse der städtischen Architektur zeigen.

Der konventionellen Studio-basierten Kunstpraxis überdrüssig, begann er gemeinsam mit dem Rotterdamer Künstler Dann Botlek im Jahr 2012, temporär in Räumen jenseits ihrer Ateliers zu arbeiten. Sie reisten nach Leipzig, um einen einzigartigen Ort für ihre Kunst zu finden. Im Gegensatz zu ihrer niederländischen Heimat gab es in Leipzig zu dieser Zeit noch zahlreiche leere historische Fabrikgebäude mit bemerkenswerter Architektur. Sie fanden die wunderschöne alte Jutespinnerei und Weberei in der Lützner Straße und arbeiteten dort vier Wochen lang heimlich an ihren Kunstwerken, ohne von den örtlichen Behörden entdeckt zu werden. Am letzten Tag luden sie einige Freunde ein, ihre Kreationen anzusehen und mit ihnen zu feiern. Zusammen entwickelten sie an diesem Abend den Ausstellungstitel „If Paradise is Half as Nice“ (IPIHAN), der aus einem Song der 60er Jahre von Amin Corner stammt.

Nach ihrer Rückkehr nach Rotterdam beschlossen Palsgraaf und Botlek, das Projekt fortzusetzen. Ein Jahr später wurde eine zweite Reise mit drei weiteren Künstlern organisiert, und „If Paradise Is Half As Nice“ war offiziell geboren. Seitdem findet es jährlich an wechselnden Orten in Deutschland und den Niederlanden statt. Die ausgewählten Standorte sind vielfältig und umfassen einzigartige Orte wie das ehemalige Polygraph-Gebäude in Leipzig, die Betoncentrale, eine große Betonbrache in Rotterdam, das verrottete VEB Kombinat Getreidewirtschaft bei Leipzig oder die verlassene Zitza Kosmetikfabrik in Zeitz, die alle wie eingefroren wirken - als ob die Arbeiter eines Tages einfach ihre Werkzeuge fallen gelassen hätten und fortgegangen wären.

Pim Palsgraaf Installation „In the absence of light“ im Museum Kunsthal Rotterdam 2019. (© Pim Palsgraaf)

Im Jahr 2023 wurde IPIHAN die Ehre zuteil, als Kuratoren der Salangen Biennale II in Sjøvegan in Norwegen eingeladen zu werden. Das Projekt fand rund um die Überreste einer alten Eisenerzmine am Salangen-Fjord im Norden Norwegens statt - einem Ort mit reicher Geschichte inmitten einer einzigartigen arktischen Landschaft. Fünf Wochen lang erkundeten 13 Teilnehmer aus Skandinavien und den Niederlanden die alte Fabrikruine, die Spuren der alten Seilbahn und die Überreste einer Mine auf einem 600 Meter hohen Berg.

Pim Palsgraaf arbeitet natürlich weiterhin an seinen freien, atemberaubenden und teils visuell irritierenden Skulpturen, die den Raum zwischen Architektur und freier Kunst aufzulösen scheinen. Das Duo-Projekt IPIHAN jedoch ist inzwischen zu einer Kerngruppe von acht Künstlern und einem Historiker gewachsen und hat international große Bedeutung erlangt. Bei den zahlreichen Ausstellungen haben insgesamt 30 Künstler über 7000 Besucher angezogen, und auch wenn (oder gerade weil) jeder Künstler auf seine eigene Weise kreativ auf das ausgewählte Gebäude reagiert, sind die wichtigsten Faktoren im Prozess immer noch die intimen Bedingungen des temporären Zusammenlebens und -arbeitens vor Ort. In dieser besonderen Atmosphäre entsteht Kunst, die vom Charakter des Ortes selbst geprägt ist - oder, wie Palsgraaf und Botlek einmal bemerkten: “Das Gebäude ist unser Kurator.“

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