Operation Baustelle Die Kunst von Graphic Surgery

Streben, Stahl und Stadtlandschaften Ein niederländisches Künstlerduo zeigt eindrucksvoll, wie Kunst und die Ästhetik des urbanen Raums miteinander verschmelzen können.

Autor: Dave Großmann, Künstler und Redakteur an den Schnittstellen von Design, Kunst und Architektur

Und plötzlich stehen sie einfach da. Obwohl sie den Horizont jeder größeren Stadt prägen, schießen Baukräne heimlich wie Pilze aus dem Boden — meist bleibt unbemerkt, wer sie eigentlich platziert hat. Die massiven Stahlkonstruktionen in Baugerüsten und Kränen suggerieren nicht unbedingt Geschwindigkeit, erscheinen dafür meist unvermittelt und stehen symbolisch für schnelle Veränderungen im Stadtbild. Für das niederländische Künstlerduo Graphic Surgery ist dies Grund genug, sich diesen Strukturen zu widmen.

Seit mehr als 15 Jahren untersuchen sie gemeinsam die Ästhetik des rein Funktionalen, die Schönheit der Dinge, die gar nicht schön sein wollen. Dieser Ausgangspunkt erinnert an die Fotodokumentationen von Bernd und Hilla Becher. Systematisch fotografierten sie verschwindende Industriearchitektur in ganz Deutschland und Europa. Derartige Architektur, zu der Wassertürme, Gasometer oder Hochöfen gehörten, wurde einzig und allein zweckorientiert gebaut. Form follows function — in nur wenigen Bereichen wurde diese Maxime derart auf die Spitze getrieben. Dennoch entfaltete sich unter diesen Bauten eine beeindruckende Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten. Eben jene Fotoserien geben uns Aufschluss über ganz unterschiedliche kulturelle Ansätze in der Industriearchitektur.

Eines der vielen Plattencover von Graphic Surgery, hier für den Berliner Technoproduzenten Mike Dehnert

Graphic Surgery hingegen widmen sich dieser Architektur nicht im dokumentarischen Sinne, stattdessen samplen sie diese und entwickeln eine ganz eigene künstlerische Sprache daraus. Inspiriert von De Stijl, russischem Konstruktivismus, aber auch experimenteller elektronischer Musik feilen sie gemeinsam an ihrer markanten Ästhetik. Der Klang brachialer Industrielandschaften wurde bereits von frühen Pionieren Techno in Detroit aufgegriffen. GS sind das grafische Gegenstück zu diesem Sound: Genau wie in der Musik verfremden sie Fragmente und setzen sie in einen völlig neuen Kontext. Kein Wunder also, dass sie bereits langjährige Kooperationen mit entsprechenden Musiklabels vorweisen können.

Die markanten "Increment" Wandskulpturen, gelaserte Holz-Assemblagen

Die Härte des kühlen Industriemilieus kommt vor allem im visuellen Kontrast ihrer Arbeiten zum Ausdruck. Bis auf wenige Ausnahmen beschränken sich ihre Ergebnisse auf Schwarz und Weiß — die reine Form steht im Vordergrund. Besonders die “Increments“, gelaserte Wandskulpturen aus Holz, beeindrucken durch räumliche Tiefe. Ihre Arbeiten sind auf eine interessante Art und Weise beides: Minimalistisch in den Formen einerseits, komplex in ihrer Vielschichtigkeit andererseits. Ihr gesamtes Portfolio schwingt ständig zwischen diesen beiden Polen. Ambivalenz in Höchstform. In der entgegengesetzten Vorliebe für beide Extreme ergänzen sich Erris Huigens und Gysbert Zijlstra. Charakteristisch an ihrer Arbeit ist, wie mühelos sie ihr visuelles Vokabular auf sämtliche Medien und Formate übertragen können. Vom Wandbild an Häuserfassaden, Siebdrucken, Wandskulpturen, Objekten oder Plattencovern bis hin zu Videoanimationen: Mit einer beneidenswerten Leichtigkeit bespielen sie sämtliche Träger ohne sich verbiegen zu müssen. Nur wenigen gelingt dieser Sprung.

Die komplexen Strukturen tauchen sowohl in Galerieformaten...
...als auch in Wandbildern auf.

Beweglichkeit findet sich auch im Wesen des Graffiti wieder, in dem Graphic Surgery ihre ursprünglichen Wurzeln haben. Sich die Architektur und die Stadtlandschaft zu eigen zu machen, um den öffentlichen Raum zu hinterfragen und eigenwillig umzugestalten, ist ganz klar dem traditionell rebellischem Geist des Graffiti zu zu schreiben. Um die Jahrtausendwende jedoch konnte man einen Wandel innerhalb der Subkulturen beobachten und viele Ausdrucksformen begannen sich weiterzuentwickeln. Anarchisches Auflehnen wich akribischen Untersuchungen. Formen wurden endlos neu kombiniert und chirurgisch genau seziert: Graphic Surgery. Der urbane Raum war von nun an nicht mehr Spielfläche, sondern wurde als Motiv aufgegriffen. Mit diesem Ansatz zählt das Duo heute zu einem der wichtigsten Akteure neuer Strömungen urbaner Kunst. Schon früh im gemeinsamen Wirken gelang es ihnen, sich in zeitgenössischen Galerien zu etablieren.

Mysteriös und zugleich genial: Urbane Interventionen von Erris Huigens

Momentan fokussiert sich Erris Huigens auf seinen Spin-off “deconstructie“, losgelöst von Graphic Surgery. Neben superminimalistischen Studioarbeiten setzt er grafische Tags in leerstehenden Industriehallen und Baustellen, die mysteriös im Kontrast zur meist rauen Umgebung stehen — sich aber ebenso an die gegebene Architektur anpassen. Vorhandene Winkel werden übernommen, Ecken und Kanten geben das Maß. Ein Wechselspiel zwischen Form und Untergrund, urbane Interventionen ganz eigener Klasse. Huigens kehrt mit seiner anonymen Geometrie gleich zweifach zu den Wurzeln zurück: zum einen markiert er ausgewählte Orte im Sinne des Graffiti, auch wenn er ganz auf den auffälligen Charakter verzichtet. Zum anderen setzt er die minimalistischen Formen an genau den Orten, die Ausgangspunkt ihrer gemeinsamen Arbeiten als Graphic Surgery waren. Das Sample in Verbindung mit dem Original, ein Remix des Raums. Mittlerweile erscheinen diese geisterhaften Formen in weiten Arealen der Niederlande. Meist bleibt unbemerkt, wer sie eigentlich dort platziert hat…

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